Samstag, 29. April 2017
Auf Messers Schneide
Jorind saß vor dem Schreibtisch ihres Psychiaters und blätterte in ihrem Lehrerkalender.

"Von Mitte April bis Ende Mai war ich in der Reha. Dann habe ich gearbeitet bis zu den Sommerferien, nach den Ferien bis ...", sie blätterte weiter, "... zu den Herbstferien, dann bis...", sie schlug ein paar Seiten um, ging eine Seite zurück,"... zum 15. November, genau, also zwei Wochen. Am 10. November kam mein Mann ins Krankenhaus, das heißt, er hat sich selbst eingeliefert. Er hatte einen Herzinfarkt, und das hat mich bös mitgenommen. Ich habe mich aber zusammengerissen, damit er nichts merkt, ich wollte ihn nicht noch beunruhigen. Er war schon zwei Tage lang mit Schmerzen in der Brust herumgelaufen ..."

Sie stockte, wollte dem Mann vor ihr nicht noch lang und breit von Theo erzählen, wenn sie doch für dieses Jahr seine letzte Patientin war und er sicher schon sehnlichst auf den Feierabend wartete.

"Jedenfalls", fuhr sie fort, "wollte ich ihn nicht allein lassen, als er wieder rauskam. Sie hatten ihm in Leipzig im Herzzentrum einen Katheder gesetzt, oder wie das heißt, und die Herzkranzgefäße freigemacht. Ich war dann krankgeschrieben...", sie sah wieder in den Kalender auf ihren Knien, "...knapp zwei Wochen, ja, bis zum 25. November. Am Montag, dem 28., habe ich eine Klausur geschrieben mit meinen Zwölfern..."

Sie hielt inne, weil sie an die chaotische Stunde in der siebten Klasse denken musste, vor dieser Klausur. Ihre Schüler, neunzehn muntere Dreizehnjährige, hatten mit einem aufziehbaren tanzenden Weihnachtsmann plus Weihnachtslied eine fröhliche Vorweihnachtsfeier inszeniert, während sie vergeblich versucht hatte, eine Grammatikübung durchzuziehen. Als sie einen der kecksten Burschen vor die Tür setzen wollte, hatte er ihr ins Gesicht gelacht und sich geweigert. Wieder empfand sie das intensive Gefühl von Hilflosigkeit und Wut. Sie holte tief Luft und räusperte sich.

"Am Dienstag habe ich auch gearbeitet, da war nämlich abends Elternsprechtag." Sie machte eine Pause und sah wieder diese Frau vor sich, ausgerechnet die Mutter von diesem stinkfaulen Bengel aus der Sechsten, wie sie ihr hartnäckig auseinandersetzte, es sei unabdingbar, zu jedem Test eine Berichtigung schreiben zu lassen, und warum nur sie, die Lateinlehrerin, dies nicht für nötig halte? Dieses Gespräch hatte ihr wieder mal eine schlaflose tränenreiche Nacht beschert.

"Ab Mittwoch war ich dann wieder krank", berichtete sie mit mühsam kontrollierter Stimme, "...bis jetzt." Sie klappte das Notizbuch zu und hielt es mit beiden Händen umfasst.

Der Arzt sah sie über seine Brillengläser hinweg an.

"Haben Sie denn Ihre Tabletten genommen?"

Sie blickte auf ihre Hände. "Ich habe sie im Oktober abgesetzt", gestand sie trotzig. "Seit genau einem Jahr hatte ich sie genommen, und als die Packung leer war, dachte ich: Das kann doch wohl nicht angehen, dass du jahrelang Medikamente schluckst, um deinen Alltag durchzustehen. Das muss doch umgekehrt sein, dass du dein Leben so änderst, dass du es ohne Pillen bewältigen kannst."

Sie bückte sich zu ihrem Collegesack, um den Lehrerkalender einzuräumen. Während sie herumkramte, hörte sie den Arzt mit seiner leisen ruhigen Stimme:

"Sie haben Depressionen. Das ist eine Krankheit, die behandelt werden muss. Wenn Sie stabil sind, können Sie auch wieder arbeiten."

'Wie zu einem Kind, das unartig war', dachte sie und fühlte heißen Zorn in sich aufsteigen. 'Nicht ich bin krank, sondern die Gesellschaft, die eine so irrwitzige Institution wie die Schule geschaffen hat, und sich weigert, sie zu reformieren.' Während sie noch in dem Rucksack kramte und das Notizbuch an seinen Platz schob, stießen ihre Fingerspitzen an das Fahrtenmesser , mit dem sie ihre Pausenäpfel zu essen pflegte und das sie stets an den Wanderritt erinnerte, den sie schon immer geplant und noch nie unternommen hatte.

Der Arzt hatte den Stuhl zu seinem Computertisch gedreht und las in ihren Krankendaten. Da spürte er, wie eine Hand mit festem Griff seine linke Schulter packte, und ein heftiger Schmerz durchfuhr die rechte Brust.

"Scheiße, das ist die falsche Seite, das Herz ist ja links!" stieß Jorind hervor und starrte auf den roten Fleck, der langsam anwuchs.

"Nun holen Sie schon Hilfe!" flüsterte der Arzt heiser und presste die Hand auf den Einstich. Jorind stürzte aus dem Sprechzimmer und fuchtelte mit dem Messer herum.

"Wir brauchen einen Sani, schnell!" schrie sie der Arzthelferin zu, die gerade das Wartezimmer staubsaugte, beim panischen Klang dieser Frauenstimme herumfuhr und mit offenem Mund und hängenden Armen auf die Patientin starrte.

Jener Satz mit der "falschen Seite" sollte Jorind einige Jahre zusätzlich kosten, denn der Richter sah eine Tötungsabsicht als erwiesen an.

Jorind saß im Besucherraum der Haftanstalt Bautzen ihrer Freundin Susan gegenüber.

"Jetzt brauche ich mir wenigstens keine Sorgen über meine Zukunft machen", sagte Jorind mit schiefem Grinsen. "Bis ich wieder draußen bin, kann ich Rente beantragen und mich in Ruhe in die Sonne setzen."

"Dein Humor war schon immer ziemlich schwarz", lächelte Susan.

"Hellschwarz", jokte Jorind, "aber stell dir bloß vor, wie mein Psychofritze jetzt vor seinem Psychiater sitzt und von seinen Ängsten erzählt." Sie ahmte die ächzende Sprechweise eines albtraumgeplagten Patienten nach. "'Ich träume davon, dass mich ein Patient angreift. In meinem Schreibtisch liegt letzt ein Revolver. Für alle Fälle.'" Dann sein Kollege", jetzt die leise sanfte Arztstimme: "'Sie haben Depressionen. Das ist eine Krankheit, die behandelt werden muss. Wenn Sie stabil sind, können Sie auch wieder arbeiten.'"

Die Freundinnen lachten schallend.

(von mir)

*hexe*

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